Die Sonne, die den Abendhimmel in der Millionenstadt Cartagena in ein blaues und purpurfarbenes Lichtspiel verwandelt, verwischt Erinnerungen an die Geschichte dieses Ortes: Auf der Plaza de la Aduana, dem „Zollplatz“ im Herzen der ummauerten Altstadt, wurden dreieinhalb Jahrhunderte lang insgesamt elf Millionen SklavInnen, die von Portugiesen, Briten und Holländern aus Afrika hierher verschleppt worden waren, an den Meistbietenden verkauft. Der Abendhimmel lässt vergessen, dass der Unterlauf von Kolumbiens längstem Fluss, dem Río Magdalena, bei der Ankunft der Spanier vom Volk der Calamari besiedelt war, die den neuen Herren hartnäckig trotzten – und rasch fast völlig ausgerottet wurden, oder dass der Glanz der Goldschmiedekultur der Zenú, die ihren Toten großzügig goldene Grabbeigaben beilegten, den Konquistadoren vor Habgier den Verstand nahm.
Die Küstenstadt avancierte ab 1533 zu einer der reichsten Städte des amerikanischen Kontinents. Entsprechend oft wurde sie von Piraten – unter anderem dem britischen „Sir“ Francis Drake – und räuberischen Eroberern überfallen. Da halfen auch die monumentalen, bis heute erhaltenen Befestigungsanlagen nicht viel.
Jahrhunderte lang gelangten von Cartagenas Hafen Gold, Silber und Smaragde nach Europa – und andererseits wurden diese Stadt und der Magdalenastrom zur Pforte für den Einzug der spanischen Sprache ins neue Kolonialreich. Seit 1984 ist die so genannte „Perle der Karibik“ UNESCO-Weltkulturerbe.
Fast fünf Jahrhunderte später, Ende März 2007. Vor Cartagenas Kongressgebäude, das in den Nationalfarben Spaniens und Kolumbiens strahlt, warten bei 28 Grad und karibischer Schwüle seit dem frühen Morgen tausende Menschen. Vier Tage lang wird die Stadt nun zur Hauptstadt der spanischen Sprache und Literatur. Am San Francisco-Bollwerk auf der Stadtmauer hat ein TV-Sender ein Set aufgebaut. Allabendlich präsentieren sich hier Autoren und Literatinnen, eine hochkarätiger als der andere, in der Abendbrise, die Männer in typischen Guayabera-Tropenhemden: Mexikos Grand Seigneur Carlos Fuentes, aus Nicaragua Gioconda Belli und Sergio Ramírez, aus Kolumbien William Ospina. Spaniens Top-Verlage haben alles, was in der Literatur Spaniens und Lateinamerikas heute Rang und Namen hat, nach Cartagena eingeladen.
Gabriel García Márquez, „Gabo“ oder „Gabito“ für seine zahlreichen Freunde und Verwandten, geißelte sie einmal als „Polizei“ der spanischen Weltsprache. Und jetzt ist sie, die Crème de la Crème der Königlichen Sprachakademie aus Madrid, in sein geliebtes Cartagena gepilgert. Ebenso zahlreiche Meister der Erzählkunst und Expertinnen des spanischen Wortes. Alle wollen sie den presse- und öffentlichkeitsscheuen Nobelpreisträger ehren. „Man stelle sich einen Kongress aller französischsprachigen Länder in Senegal oder in Algerien vor. Das wäre absolut undenkbar“, sagt Héctor Feliciano. Der Schriftsteller und Journalist aus Puerto Rico war eine Woche vor dem Kongress Gast in García Márquez’ renommierter Journalistenschmiede „Stiftung für Neuen Lateinamerikanischen Journalismus“ (FNPI), die ebenfalls in der Stadt ihren Sitz hat.
Der österreichische Autor Erich Hackl, ebenfalls vom FNPI eingeladen, hielt auf Einladung der Stiftung zusammen mit dem US-Journalisten und Autor John Lee Anderson einen Workshop zum Thema Journalismus und Literatur. Erich Hackl: „Das war für mich ein großer Gewinn, weil ich mich ja genau in diesem Grenzbereich bewege. Es geht darum, den Opfern ihre Geschichte zurückzugeben. Man kann das von zwei Seiten aus beleuchten: vom Journalismus her, das hat John Lee Anderson mit seiner Werkstattarbeit gemacht, und ich stand für den literarischen Zugang.“
Bei der Weltausstellung 1992 in Sevilla war die Idee entstanden, und seit 1997 findet alle drei Jahre der Internationale Kongress der spanischen Sprache statt – zuerst in Zacatecas in Mexiko, dann im spanischen Valladolid und schließlich in Rosario in Argentinien. Bei diesen Gipfeln des Wortes wird der Gegenwart und der Zukunft, dem schöpferischen Potenzial und auch der wirtschaftlichen Bedeutung der spanischen Sprache der Puls gefühlt. Große Firmen wie Iberia, der Telefonriese Telefónica, der Bankkonzern BBVA und Verlage wie Planeta sponsern das Großereignis.
2004 in Argentinien stand der Klassiker der spanischen Literatur, „Don Quijote“ von Miguel de Cervantes im Mittelpunkt des Kongresses. Nahe liegend, dass für heuer die Wahl auf den Autor des „Modernen Quijote“ und Begründer des Magischen Realismus, Gabriel García Márquez fiel. Am 6. März ist er 80 Jahre alt geworden, vor 40 Jahren erschien sein bekanntester Roman, „Hundert Jahre Einsamkeit“, und vor 25 Jahren erhielt er den Nobelpreis.
Kurz vor elf Uhr erscheint der Maestro, ganz in Weiß gekleidet. Nach allen Seiten lächelnd und grüßend, durchschreitet er die Gänge im Kongress-Gebäude. Dreieinhalbtausend BesucherInnen mussten draußen bleiben – nur 1.500 passen ins Auditorium. Der spanische König überreicht dem Jubilar das erste Exemplar einer Sonderauflage seines literarischen Meisterwerks, herausgegeben von der Königlichen Sprachakademie in einer Auflage von einer Million Exemplaren.
Carlos Fuentes, seit 45 Jahren Intimfreund von García Márquez, lobt als Laudator den ohnehin schon Unsterblichen: „Heute beginnen die nächsten hundert Jahre von Gabriel García Márquez.“ Und der Erzählmeister selbst, als er endlich ans Mikrofon tritt: „Seit ich siebzehn war, habe ich, wie auch heute morgen, jeden Tag nichts anderes getan als früh aufzustehen und ein Blatt oder eine leere Bildschirmseite mit einer noch nie erzählten Geschichte zu füllen.“ Und setzt nach: „Nicht einmal im größten Delirium, während ich an dem Roman schrieb, hätte ich mir träumen lassen, dass ich je ein Exemplar einer Auflage von einer Million in den Händen halten würde. Allein der Gedanke daran hätte von Wahnsinn gezeugt.“ Im Auditorium kämpfen nicht wenige mit den Tränen. Im Publikum haben Ex-US-Präsident Bill Clinton, ein großer Bewunderer von Gabo, Kolumbiens Präsident Álvaro Uribe und acht lateinamerikanische Präsidenten oder Ex-Präsidenten Platz genommen. Auf dem Podium das spanische Königspaar.
„Ohne Cartagena gäbe es den berühmten Schriftsteller vielleicht nicht“, sagt García Márquez‘ ferner Verwandter José Luis Díaz Granados. Nach einem ungeliebten Jus-Studium im kalten Bogotá beginnt Gabo in Cartagenas Lokalblatt „El Universal“ seine Reporterlaufbahn. In der Karibikstadt besitzt er auch heute noch eine Residenz. Romane wie „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ (1987) oder „Von der Liebe und anderen Dämonen“ (1994) haben ihre Wurzeln oder spielen in der geschichtsträchtigen Stadt. 1994 gründete García Márquez die FNPI-Schreibwerkstatt, die er, wie auch die Filmschule „Stiftung für Neuen Lateinamerikanischen Film“ auf Kuba, aus Autorenrechten und aus eigenem Vermögen finanziert. Erich Hackl meint dazu: „Großartig, wenn man bedenkt, was andere preisgekrönte Autoren mit dem Geld machen. Und es zeigt seine Obsession für das, was einmal sein eigener Beruf war – den Journalismus. In einigen Ländern Lateinamerikas bäumt man sich gegen den journalistischen Einheitsbrei auf, den man ja heute weltweit vorfindet. Spanien hingegen ist in erster Linie wohl mehr an ökonomischer Verwertung und Präsenz der eigenen Verlage interessiert als an anderen Initiativen.“
Der Kongress war von der Freude darüber geprägt, dass Spanisch einen Boom erlebt wie noch nie. In 20 Jahren dürfte es nach Chinesisch die zweitwichtigste Verkehrssprache der Welt und das Verständigungsmedium für mehr als 500 Millionen Menschen sein, prognostizieren die Fachleute. Jetzt schon ist es Amtsprache in 23 Ländern mit 400 Millionen EinwohnerInnen. Und mit 50 Millionen „Hispanos“ sind die USA inzwischen das Land mit der drittgrößten spanischsprachigen Bevölkerung nach Mexiko und Spanien.
Gabos Freund Jaime Abello weiß um dessen Verdienste für Sprache, Literatur und Kultur: „Sein größter Beitrag war, mit den von Europäern, vor allem von Briten und von Deutschen, dominierten Chroniken aus den vergangenen Jahrhunderten über die Kultur Lateinamerikas mit diesem westlich-rationalistischen Blick zu brechen. Sein Werk gründet auf der volkstümlichen Sprache und Kultur von Kolumbiens Karibikküste“ – also auf jener Mischung aus indianischer, schwarzer, spanischer sowie mestizischer Kultur, die in Cartagena und an der Karibik wie fast nirgendwo gleichartig vorzufinden ist.